10/09/2025 | Press release | Distributed by Public on 10/09/2025 03:49
Die Auseinandersetzung mit Täter*innen hat in der Literatur eine lange Tradition. Sie berührt Fragen nach menschlicher Natur, Moral und den gesellschaftlichen Bedingungen von Verbrechen. Warum aber erzählen wir Geschichten über Täter*innen, welche Funktion erfüllen sie, und welche Rolle spielt dabei die Literatur? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Workshops "A Case for Empathy? Facing the Perpetrator in Literature, Culture, and History", der vom 16. bis 18. Oktober am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) stattfindet. Drei Fragen an die Leiterin, Dr. Saskia Fischer (Universität Hannover).
Woher kommt die Faszination für Täter*innen?
Saskia Fischer: Die anhaltende Popularität von True-Crime-Formaten, Krimis und Thrillern zeigt: Täter*innen faszinieren, weil sie ein voyeuristisches Bedürfnis befriedigen. Gewalt und das Abgründige wirken als kontrollierbare Formen des Unheimlichen. Wir erleben Angst und Entsetzen, ohne selbst betroffen zu sein. Diese 'geschützte' Rezeption erlaubt es, Verbrechen als etwas Fremdes zu betrachten und sich in der vermeintlichen Sicherheit eigener Unschuld zu wiegen.
Solche Erzählungen, vom klassischen Krimi bis zu medialen Inszenierungen, bieten einfache Deutungen und stellen am Ende die Ordnung wieder her. Sie sind, wie Bertolt Brecht sagte, 'barbarische Belustigungen'. Gesellschaftlich erfüllen sie zudem die Funktion, das Böse auf 'die Anderen' zu projizieren. So wird die Auseinandersetzung mit Schuld verdrängt, und die Faszination für Täter*innen bleibt oberflächlich - ein moderner Selbstbetrug.
© Deborah Fallis
Wozu kann eine kritische Beschäftigung mit Täter*innen beitragen?
Saskia Fischer: Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Schuld, besonders mit kollektiver Gewalt wie der Shoah, widerspricht der Vorstellung, Schuld lasse sich abschließen. Sie zwingt uns, die sozialen, kulturellen und moralischen Strukturen zu betrachten, aus denen Vergehen entstehen.
Hannah Arendt beobachtete im Frankfurter Auschwitz-Prozess, dass viele Angeklagte die 'vox populi', also die Stimme der Nachkriegsgesellschaft, verkörperten: Schuldabwehr, Rechthaberei, der Wunsch nach einem 'Schlussstrich'. Diese Haltung offenbarte die Kontinuität nationalsozialistischer Mentalitäten. Ralph Giordano nannte dies die 'zweite Schuld', das Schweigen und die Nichtanerkennung der Opfer.
Ein kritischer Blick auf Täter*innen bedeutet daher, den Blick auf uns selbst zu richten. Er entlässt niemanden aus Verantwortung, sondern fordert, die eigenen moralischen Positionen zu prüfen. Die Art, wie wir über Täter*innen erzählen, spiegelt unsere gesellschaftlichen Werte wider. Narrationen, die Ambiguität verweigern, fördern die Faszination, weil sie nicht fordern, sondern beruhigen. Wir sollten dieser Faszination misstrauen.
Was können wir lernen, wenn wir Täter*innen mit Empathie begegnen?
Saskia Fischer: Empathie durchbricht die Distanz zu Täter*innen. Sie zwingt uns, Parallelen zu erkennen, Verantwortung zu reflektieren und dennoch Abgrenzungen vorzunehmen. Eine verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit Schuld, die weder Täter*innen entschuldigt noch Opfer vergisst, ist nur über einen empathischen Zugang möglich.
Empathie bedeutet hier kein Mitleid oder Mitgefühl, sondern eine Praxis des genauen Hinsehens und Selbstbefragens. Sie ist sowohl emotional als auch reflexiv. Kein Identifikationsangebot, sondern eine Methode der Erkenntnis. Sie erlaubt, Verstehen und Kritik zu verbinden: Wir können uns in Perspektiven hineindenken, ohne Verhalten zu billigen.
Ein empathischer Zugang verhindert Dämonisierung und macht die gesellschaftlichen Strukturen sichtbar, die Schuld ermöglichen. Er fordert, Schuld nicht auf 'die Anderen' abzuschieben, sondern Mitverantwortung und Komplizenschaft zu erkennen.
Gerade deshalb braucht es den interdisziplinären Austausch zwischen Psychologie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Antisemitismusforschung, Philosophie und der Literatur. Denn die künstlerischen Erzählungen prägen wesentlich, wie wir Täter*innen sehen und über sie nachdenken.
Hier gibt es weitere Informationen zu dem Workshop.
Die Veranstaltung beinhaltet eine Lesung und das Gespräch mit den Autor*innen Marcel Beyer und Nora Bossong über Täter*innen in der Literatur.