09/19/2025 | Press release | Distributed by Public on 09/19/2025 13:03
Rede von Bundesrat Ignazio Cassis anlässlich einer Veranstaltung der Camera di Commercio Cantone Ticino, Economiesuisse und der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik zum Paket Schweiz-EU in Bellinzona - Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrter Direktor der Handelskammer, Luca Albertoni
Sehr geehrter Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik, Nationalrat Jon Pult
Sehr geehrter Vize-Syndikus von Bellinzona, Fabio Käppeli
Geschätzte Bundes- und Kantonsparlamentarierinnen und -parlamentarier
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, meine Damen und Herren
Es ist mir eine Freude, heute Abend hier im Teatro Sociale von Bellinzona zu sein. Diese Begegnung gibt uns die wertvolle Gelegenheit, gemeinsam über die Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zu sprechen.
Mein Dank gilt der Handelskammer des Kantons Tessin und der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik für die freundliche Einladung.
Eine Konstante unserer Geschichte
Die Schweiz hat ihre Nachbarn immer aufmerksam im Blick. Das ist naheliegend: Wir leben im Herzen Europas, umgeben von EU-Mitgliedstaaten. Mit ihnen handeln wir, arbeiten wir, studieren wir und tauschen Kultur aus.
Die Qualität dieser Beziehungen war immer entscheidend für unseren Wohlstand, unsere Sicherheit - und für unsere Lebensqualität.
Nach 1992: der bilaterale Weg
Wir erinnern uns gut: 1992 sagte das Schweizer Volk «Nein» zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum. Es war ein demokratischer Entscheid - und er zwang uns, einen anderen Weg zu finden.
Dieser Weg wurde das bilaterale Modell: massgeschneiderte Abkommen mit der EU, Schritt für Schritt aufgebaut in den letzten 30 Jahren.
Dank diesem Weg konnten wir am europäischen Markt teilnehmen, innovativ bleiben, Arbeitsplätze schaffen, die Forschung stärken und Stabilität sichern. Ein Erfolgsmodell, das weltweit Beachtung fand.
Die Zeit bleibt nicht stehen
Heute aber ist die Lage klar: Während die EU die Regeln ihres Binnenmarktes laufend aktualisiert, bleiben unsere Abkommen unverändert.
Wenn wir nichts unternehmen, läuft der bilaterale Weg aus. Und mit ihm auch unsere Möglichkeit, «à la carte» am europäischen Markt teilzunehmen.
Das neue Paket Schweiz-EU
Deshalb hat der Bundesrat im Juni dieses Jahres ein neues Paket von Abkommen mit der EU beschlossen und die Konsultation eröffnet, die bis Ende Oktober dauert.
Was bringt dieses Paket konkret?
Im Kern geht es darum, das zu erneuern, was wir bereits seit 25 Jahren kennen: Abkommen über den Luft- und Landverkehr, den Handel mit Industrie- und Agrarprodukten sowie die Personenfreizügigkeit - alles Grundlagen unseres Wohlstands.
Neu hinzu kommen zwei für die Zukunft entscheidende Bereiche: Energie und Gesundheit.
Zudem regeln wir zwei institutionelle Fragen - die dynamische Rechtsübernahme zur Teilnahme am Binnenmarkt sowie die Streitbeilegung über ein Schiedsgericht.
Alles andere in unserer Rechtsordnung bleibt unberührt.
Warum der Bundesrat dies als strategische Notwendigkeit sieht
Meine Damen und Herren
Die Welt steht an einer historischen Wegscheide: Kriege, Handelskonflikte und Rivalitäten unter Grossmächten erschüttern unsere Gewissheiten. Das Recht des Stärkeren ist zurück. Die internationale Ordnung nach dem Kalten Krieg wankt.
In dieser Phase des globalen Wandels darf die Schweiz nicht stillstehen: Sie muss die Grundlagen unseres Wohlstands festigen - nämlich die Verträge, die unsere Beziehungen zur Welt regeln.
Unser wichtigster Partner bleibt ohne Vergleich die Europäische Union: Allein im Warenhandel geht es um 300 Milliarden Franken pro Jahr - über 800 Millionen pro Tag. Das heisst: In den zwei Stunden, die wir heute Abend zusammen verbringen, fliessen Waren im Wert von rund 70 Millionen Franken zwischen der Schweiz und der EU.
Mehr als die Hälfte unserer Exporte geht in die EU. Man kann es einfach ausdrücken: Von jedem Zwei-Franken-Stück in unserer Tasche hängen fünfzig Rappen von Europa ab.
Auch die USA und China sind wichtig. Doch die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Mit den USA handeln wir etwa ein Fünftel dessen, was wir mit der EU austauschen; mit China nur ein Zehntel.
Und wir dürfen nicht vergessen: Der EU-Binnenmarkt ist der grösste der Welt - 450 Millionen Menschen, 16 Billionen Euro Wirtschaftsleistung. Für ein Land im Herzen Europas ist es keine Option, am Rand zu bleiben.
Die Stabilisierung unserer Beziehungen mit der EU ist kein politischer Luxus, sondern gesunder Menschenverstand. Sie ist ein strategischer Schritt, um Wohlstand und Sicherheit zu gewährleisten - in einer unsicheren Welt.
Wie ein arabisches Sprichwort sagt: «Wer in Frieden mit seinem Nachbarn lebt, schläft ohne Angst.»
Eine gemeinsame Aufgabe
Das Paket betrifft nicht nur die exportierenden Unternehmen. Es betrifft uns alle:
Darum ist die laufende Konsultation so wichtig: Sie gibt nicht nur Fachleuten das Wort, sondern der ganzen Gesellschaft.
Gerade im Tessin ist die Grenze keine abstrakte Vorstellung, sondern tägliche Realität: Zehntausende Grenzgänger arbeiten hier, und der Gotthard verbindet uns mit dem Rest Europas.
Darum ist die europäische Debatte hier besonders lebendig - manchmal hitzig -, weil wir die Vorteile ebenso spüren wie die Schwierigkeiten. Eine Bereicherung, aber auch eine Herausforderung, die klare und stabile Regeln braucht.
Von hier aus, aus dem Tessin, kann ein starkes Signal an die ganze Schweiz gehen: Wählen wir Stabilität - und nicht Unsicherheit.
Meine Damen und Herren,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Der bilaterale Weg gehört nicht der Vergangenheit. Er ist der Weg, der uns hierher geführt hat - und den wir für die Zukunft stärken müssen.
Das neue Paket Schweiz-EU beschränkt unsere Unabhängigkeit nicht. Im Gegenteil: Es festigt sie. Denn nur wer stark ist, bleibt wirklich souverän.
Es ist kein Luxus. Es ist eine Garantie - für unseren Wohlstand, für unsere Jugend, für unsere Energie- und Gesundheitssicherheit.
Die Schweiz ist stark, wenn sie über ihre Grenzen hinausblickt, ohne ihre Identität zu verlieren. Genau das ermöglicht dieses Paket: verbunden mit der Welt - und doch wir selbst.
Meine Damen und Herren
Die Welt ist im Sturm. Wir können den Wind nicht stoppen, aber wir können die Segel richtig setzen. Mit soliden Beziehungen zu unseren Nachbarn bleibt die Schweiz Herrin ihrer eigenen Fahrt.
Ich lade Sie ein mitzudenken, sich eine Meinung zu bilden und Ihre Stimme hörbar zu machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit - und für Ihre aktive Teilnahme an dieser wichtigen Debatte für unser Land.
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