12/19/2025 | Press release | Distributed by Public on 12/19/2025 03:04
"Alle Forschenden stehen vor philosophischen Fragen"
Sabina Leonelli ist Professorin für Philosophie und Wissenschafts- und Technikgeschichte und leitet das Public Science Lab. In der neuen Folge von "NewIn" erklärt sie, warum ein Blick in die Geschichte für Wissenschaft und Technologieentwicklung hilfreich sein kann, wie sie gemeinsam mit Menschen außerhalb der Universität forschen will und wie sich die Wahrnehmung von Philosophinnen in Deutschland von der in anderen Ländern unterscheidet.
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Ich stimme zuPhilosophie gehört nicht zu den traditionellen Fächern der TUM. Welche philosophischen Fragen möchten Sie in die Universität bringen?
Alle Forschenden sind in fast jedem Moment des Tages mit philosophischen Fragen konfrontiert. Welche Methode wähle ich? Wie formuliere ich meine Hypothese? Glaube ich, dass qualitative oder quantitative Daten zuverlässiger sind? Diese Überzeugungen basieren alle auf philosophischen Traditionen und Denkweisen darüber, was Forschung ausmacht, welche Kriterien wir zur Bestimmung zuverlässiger Ergebnisse verwenden und welche Auswirkungen unser Wissen und unser Verständnis von Natur und Menschheit haben. In diesem Sinne treffen alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ständig Entscheidungen mit philosophischen Wurzeln und Implikationen. Viele Forschende sind jedoch nicht daran gewöhnt oder darin geschult, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Wie können Sie diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schulen und motivieren?
Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden motivieren muss. Forschende wissen oft einfach nicht, mit wem sie bei der Bearbeitung dieser philosophischen Fragen zusammenarbeiten sollen. Deshalb möchte ich unsere Disziplin sichtbarer machen, damit alle an der Universität wissen, dass sie Hilfe bei ihren Projekten bekommen können. Der Großteil meiner Forschung findet in interdisziplinären Kooperationen mit verschiedenen wissenschaftlichen Gruppen und wissenschaftspolitischen Organisationen statt, die sich unter anderem mit datenintensiver Biologie, Open Science, dem Einsatz von KI in der Biomedizin und den Umweltwissenschaften befassen. Außerdem forsche ich zu wissenschaftlichen Infrastrukturen wie Datenbanken und Cloud-Diensten sowie zu wissenschaftspolitischen Systemen.
Welche Rolle spielt der Blick in die Geschichte für Ihre Arbeit?
Eine wichtige Frage, bei deren Beantwortung uns die Geschichte helfen kann, ist, warum wir bestimmte Prioritäten in Wissenschaft und Technologie setzen und woher diese kommen. Beispielsweise ist Automatisierung heute eine bedeutende Idee. Viele Leute wünschen sich, dass unser Leben so weit wie möglich automatisiert wird, mit Maschinen, die denken, intelligent sind und die Arbeit für uns erledigen. Allerdings haben die Menschen Maschinen nicht immer als Ersatz betrachtet. Es gibt eine sehr lange historische Tradition, in der die Wissenschaft Maschinen als Ergänzung zum Menschen betrachtet, die mit ihm zusammenarbeitet. Das Verständnis der Geschichte kann uns viel darüber lehren, warum wir heute bestimmte Ideen haben und welche Alternativen es geben könnte.
Wie können Studierende von Ihrer Forschung profitieren?
Neben dem Studiengang Science and Technology Studies können Studierende aus allen Fachbereichen der TUM Plug-in-Module besuchen, die sich mit philosophischen Fragen befassen. Diese Module gehen von realen wissenschaftlichen und technologischen Problemen aus und stellen Fragen, die für jede Disziplin von Bedeutung sind: Wie verlässlich ist unser Wissen über die Welt? Was ist Evidenz und wann sollten wir ihr misstrauen? Gibt es wissenschaftliche Revolutionen? Wie beeinflussen Methoden, Annahmen und Werte die Entwicklung von Technologien?
Sie haben in verschiedenen Ländern gearbeitet. Gibt es Unterschiede darin, wie Philosophie wahrgenommen wird?
In Deutschland werden Philosophinnen und Philosophen überwiegend als wichtiger Teil der Gesellschaft anerkannt. Das ist in Großbritannien nicht immer der Fall, wo Philosophinnen und Philosophen, die an Universitäten arbeiten, oft mit großem Misstrauen betrachtet werden. Die Kehrseite dieses sozialen Status in Deutschland ist, dass viele Menschen vielleicht etwas zu zurückhaltend sind, sich an eine Universitätsprofessorin zu wenden. Sie denken "Vielleicht ist Philosophie nichts für mich" - und genau diese Wahrnehmung versuche ich zu ändern. Forschende, die an einer Universität arbeiten, sind Dienerinnen und Diener der Gesellschaft. Daher ist es mein Anliegen, mit verschiedenen Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft darüber zu sprechen, was sie in ihrem täglichen Leben brauchen, was sie von Wissenschaft erwarten und welche Ideen sie haben, wie Technologie der Demokratie dienen kann. Und dann sollten wir versuchen, Probleme gemeinsam zu lösen.
Zu diesem Zweck haben Sie gemeinsam mit Anne Rademacher und Jörg Niewöhner das Public Science Lab gegründet.
Wir möchten unbedingt von Menschen außerhalb der Wissenschaft lernen, damit wir in der Lage sind, hochrelevante gesellschaftliche Probleme von weniger wichtigen Themen zu unterscheiden, beispielsweise wenn wir über urbane Mobilität sprechen. Wir wollen untersuchen, wer darüber entscheidet, wie ein Problem beschrieben wird und welches Wissen zu seiner Lösung herangezogen wird. Indem wir Bürgerinnen und Bürger einbeziehen, können wir auch das Gefühl der Hoffnungslosigkeit angehen, das viele Menschen in Bezug auf Technologie empfinden. Zu oft fühlen sie sich überfordert und haben den Eindruck, dass KI von großen Unternehmen produziert wird, während sie selbst keinen Einfluss darauf haben, wie diese Technologien entwickelt werden. Die Botschaft des Public Science Lab ist eine Botschaft der Hoffnung, die zeigt, dass es Raum für gesellschaftliche Handlungsmacht gibt - aber wir müssen zusammenarbeiten, um sie zu erreichen.
Sabina Leonelli ist seit Oktober 2024 Professorin für Philosophy and History of Science and Technology an der TUM School of Social Sciences and Technology. Nach ihrem Studium der Geschichte, Philosopie und Social Studies of Science am University College London und der London School of Economics and Political Science (LSE) promovierte sie in Philosophie an der Vrije Universiteit Amsterdam. Sie arbeitete an der LSE und als Professorin für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der University of Exeter, wo sie Direktorin des Centre for the Study of the Life Sciences und Leiterin der Forschung zu Data Governance, Openness and Ethics am Institute for Data Science and Artificial Intelligence war. Derzeit ist sie Präsidentin der International Society for History, Philosophy and Social Studies of Biology.
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