10/03/2025 | Press release | Archived content
Mit einem dankbaren Blick auf das Erreichte und einen entschlossenen Aufruf für einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft verknüpfte Bundeskanzler Merz seine Rede zum 35. Jubiläum des Tages der Deutschen Einheit - bei dem auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die Saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger zu Gast waren.
Zu den Zielen für Deutschlands Zukunft gehöre die freiheitliche Demokratie zu stärken, den Rechtsstaat zu verteidigen, zu wirtschaftlicher Stärke zurückzufinden und diese mit sozialer Verantwortung zu verbinden sowie Deutschland fest in Europa zu verankern.
Lesen Sie hier das Wichtigste der Rede in Kürze:
Sehen Sie hier die gesamte Rede:
Lesen Sie hier die gesamte Rede:
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Monsieur le Président de la République Française, cher Emmanuel,
Madame Macron,
sehr geehrte Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Frau Präsidentin des Bundesrates,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes,
sehr geehrte Repräsentanten der Verfassungsorgane des Bundes und der Länder,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Bundes, der Länder und der kommunalen Familie,
sehr geehrte Repräsentanten der Kirchen und der Religionsgemeinschaften und der Zivilgesellschaft,
Exzellenzen,
sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger hier im Saal und im ganzen Land!
"Wer uns findet, findet uns gut." Das ist das inoffizielle Motto des Saarlandes.
Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren ich denke, ich darf das stellvertretend für Sie alle tun , den Saarländerinnen und Saarländern, dem ganzen Saarland, und vor allem Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Anke Rehlinger, ganz herzlich für die großartige Gastfreundschaft zu danken, die wir an diesem Tag heute hier im Saarland genießen dürfen: Herzlichen Dank! Herzlichen Dank für Ihre Rede und für Ihre eindringlichen und gleichzeitig so humorvollen Worte!
Heute, am 3. Oktober, sind wir Deutschen 35 Jahre in Einheit und Frieden vereint. Jahrzehnte waren wir getrennt; aber schon bald werden wir genau so lange in einem Land verbunden sein, wie wir getrennt waren. Dieser 3. Oktober, der Tag, den wir heute miteinander feiern, ist und bleibt ein Festtag.
Nun möchte ich an diesem Tag und an dieser Stelle gleichwohl nur kurz zurückblicken.
Wir haben in den vergangenen 35 Jahren oft darüber gesprochen - nicht nur, aber vor allem an diesem 3. Oktober -, wie alles kam seit dem Sommer und Herbst 1989, wie viel Mut, wie viel Freiheitsliebe sichtbar und wirksam wurden, und dass diese sogenannte friedliche Revolution in der auch hätte misslingen können. Selbstverständlich war unsere Einheit jedenfalls nicht.
Wir haben oft darüber gesprochen, wie groß die wechselseitigen Missverständnisse waren - und vielleicht bis heute sind - und wie zäh sich manchmal pauschale, hin und wieder sogar abwertende Zuschreibungen noch immer halten.
Wir haben oft darüber diskutiert, wie stark die Erfahrung individueller Zurücksetzung, der Entwertung von Lebensläufen in Ostdeutschland, nachwirkt - Empfindungen, die verständlich sind, Erfahrungen, die wir zu achten haben. Gleichzeitig sehen wir, wie viele Neuanfänge und persönliche Neuerfindungen gelungen sind, so schwierig sie auch manchmal waren.
Zugleich sind wir immer wieder erstaunt, wie vielen von uns die freudigen Gefühle der Jahre 1989 und 1990 abhandengekommen sind. Wir haben uns gefragt, ob vermeidbare Fehler gemacht wurden, oder ob es sich, etwa im Bereich der Wirtschaft, nicht doch um Unvermeidlichkeiten in einem historisch einmaligen Übergang von planwirtschaftlichen zu marktwirtschaftlichen Strukturen gehandelt hat.
Wir fragen immer noch, warum in vielen Führungsbereichen eine Zielmarke von 20 Prozent, entsprechend dem Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen, immer noch nicht erreicht ist auch wenn es Fortschritte gibt. Manche, auch ich, haben dennoch stets den Standpunkt vertreten, dass man von einem Gelingen der Deutschen Einheit sprechen kann, wie es gerade auch andere Nationen mit Blick auf unser Land von außen anerkennend tun. Über all dies ist in den vergangenen 35 Jahren oft gesprochen, um all dies ist oft gestritten worden.
Ich denke heute: Nach 35 Jahren Deutscher Einheit und in einer schwierigen Zeit für unser Land sollten wir uns neu sammeln und mit Zuversicht und Tatkraft nach vorn blicken. Lassen Sie uns eine gemeinsame Kraftanstrengung unternehmen für eine neue Einheit in unserem Land!
Darüber möchte ich heute mit Ihnen sprechen und uns dazu auch einige Fragen stellen. Vor allem: Was wollen wir für ein Land sein? Wie können wir unsere innere Balance erhalten, vielleicht wiederfinden, wie können wir die innere Einheit unseres Landes stärken?
Wir erleben den Herbst des Jahres 2025 als entscheidenden Moment für unser Land. Unsere Nation steht mitten in einer wichtigen, vielleicht entscheidenden Phase ihrer neueren Geschichte. Die Ausstrahlungskraft dessen, was wir den freien Westen nennen, nimmt jedenfalls erkennbar ab. Es versteht sich nicht mehr von selbst, dass die Welt sich an uns orientiert, dass man es unseren Werten der freiheitlichen Demokratie nachtut, dass wir die Möglichkeit haben, als Teil dieses freien Westens die Welt ein bisschen zum Besseren zu verändern. Neue Allianzen von Autokratien bilden sich gegen uns und greifen die liberale Demokratie als Lebensform an. Unsere freiheitliche Lebensweise wird attackiert, nicht nur von außen, auch von innen.
Wir erleben zugleich eine Revolution in Wirtschaft und Technik, die nur mit den Umwälzungen zu Beginn des Industriezeitalters zu vergleichen ist. Die digitale Revolution jedenfalls verändert die Art und Weise, wie wir arbeiten, was wir wissen und wie wir miteinander sprechen.
Zugleich ändern sich die Regeln, wie wir in der Wirtschaft miteinander umgehen: Die Weltwirtschaftsordnung wird gerade umgeschrieben, Zollschranken werden neu errichtet, Egoismen werden wieder stärker sichtbar. Vielleicht sind wir auch deshalb wirtschaftlich schwächer geworden - und auch deshalb sind soziale Versprechen, die wir uns untereinander gegeben haben, heute so viel schwerer zu erfüllen als sie es früher waren.
Dazu kommt: Jahrelange irreguläre, ungesteuerte Migration nach Deutschland hat unser Land polarisiert und neue Gräben in der Gesellschaft aufgerissen. Wir müssen deshalb heute begreifen: Vieles muss sich ändern, wenn vieles so gut bleiben oder gar besser werden soll, wie es in unserem Land bisher ist.
Diesen nicht leichten Moment für unser Land sollten wir nicht als Bedrohung erleben - lassen Sie uns darin eine Chance sehen, die wir beherzt gemeinsam ergreifen! Es ist notwendig, dass wir uns an diesem Punkt auf das wirklich Wichtige besinnen und dann, eben mit Zuversicht, nach vorn gehen.
Nun werden manche spätestens an dieser Stelle fragen: Wer ist "wir", und wer ist "uns"?
Nun, meine Damen und Herren: "Wir", das ist nicht nur "die Politik". Das wäre angesichts dieses Umbruchs, den wir erleben, viel zu wenig. Es gibt nicht das eine Gesetz oder die eine Verordnung, die den entscheidenden Anstoß zum Besseren, zur Veränderung, geben. Selbstverständlich übernimmt die Politik, übernehmen die Institutionen unseres Staates, übernimmt die Bundesregierung ihre Verantwortung. Diese Verantwortung ist groß - wir sind uns der Dimension der Aufgabe sehr wohl bewusst. Aber diese Dimension der Aufgabe muss auch von allen verstanden und angenommen werden, von der Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes: von Saarbrücken bis Cottbus, von Greifswald bis Konstanz, von Chemnitz bis zu den Ostfriesischen Inseln.
"Wir", das sind alle Deutschen. Wir sind als Bürgerinnen und Bürger gleich: gleich vor dem Gesetz; gleich im Anspruch darauf, dass der Staat niemandem Steine in den Weg legt, der sich entfalten und bewähren will; gleich in der Verantwortung für dieses Land, jeder an seiner Stelle.
Nun frage ich also noch einmal: Was wollen wir für ein Land sein?
Erstens: Wir wollen ein freiheitliches demokratisches Land sein. Das ist nicht mehr selbstverständlich. Und, meine Damen und Herren, wir wollen ein Land sein, das auch in Zukunft über sich selbst entscheidet, in dem nicht einer oder wenige sagen, wo es lang geht, sondern in dem wir uns gemeinsam klar darüber werden, wo wir hinwollen. Denn der Staat, das sind wir alle.
Wir wollen ein Land sein, in dem wir in einem dauernden Gespräch miteinander unseren Weg finden - in einem Gespräch in der Öffentlichkeit, in den Medien, auch in den sozialen Medien, in den Parlamenten und Institutionen, in den Schulen, in der Wissenschaft, an den Universitäten, in der Kultur, in den Vereinen, am Arbeitsplatz, in der Familie und unter Freunden. Erst aus diesem Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst, in dem alles zur Sprache kommt und alles gehört wird, erwächst unsere gemeinsame Zukunft. Das ist die Wirklichkeit einer lebendigen Demokratie!
Diese demokratische Auseinandersetzung ist nicht wohlgeordnet, nicht immer gesittet, nicht immer auf gleichem Niveau und auch nicht immer nur geprägt von Sachlichkeit und Fairness. Aber trotzdem, gerade in seiner Vielstimmigkeit und gerade auch in seiner Leidenschaft, ist dieses Gespräch die Voraussetzung für jeden Fortschritt, für Veränderung zum Besseren - übrigens auch für Freiheit. Denn so sehr es die Versuche gibt, einander den Mund zu verbieten, so sehr gibt es auch jedes Mal und zu Recht den Widerspruch und den Protest dagegen - und genau darauf kommt es an. Demokratie, meine Damen und Herren, ist öffentliche Auseinandersetzung. Wenn wir hören, dass diskutiert und gestritten wird, dann hören wir die Demokratie!
Zweitens: Wir wollen ein rechtsstaatliches Land sein. Unabhängige Gerichte setzen bei der Ausübung staatlicher Macht Grenzen und garantieren die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Bei uns müssen Gesetze mit der Verfassung und Verwaltungsentscheidungen mit den Gesetzen vereinbar sein: Sonst werden sie von den Gerichten verworfen. Bei uns muss sich die Verwaltung an die Gesetze halten: Sonst werden ihre Entscheidungen und Bescheide aufgehoben. Bei uns sind - auch das muss man heute sagen, weil es nicht mehr selbstverständlich ist - Richterinnen und Richter keiner politischen Agenda verpflichtet, sondern ausschließlich Recht und Gesetz. Bei uns dient das Recht der Freiheit. Und noch einmal: Bei uns sind vor dem Gesetz alle Menschen gleich. Bei uns begrenzen und kontrollieren sich die Gewalten gegenseitig - damit wir uns als Bürger frei entfalten und selbst bestimmen können.
Das ist unser demokratischer Rechtsstaat - auch wenn es immer wieder berechtigte Kritik und Nachbesserungsbedarf gibt. Die Grundausrichtung unseres Landes ist genau das, und muss es auch bleiben: die Gewaltenteilung, die Kontrolle der Macht, die Freiheit der Wahl, die Freiheit der Rede, der Presse, der Kunst, der Wissenschaft, der Religionsausübung oder der Berufswahl.
Drittens: Wir wollen ein wirtschaftlich starkes und wir wollen ein soziales, ein solidarisches Land sein. Wir sind ein Land, das immer stark war im Erfinden. Wir können Technologie. Wir können Qualität. Wir können Innovation. Wir können Handwerk. Wir können soziale Partnerschaft in den Betrieben fast einzig auf der Welt: der Umgang von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und ihren Repräsentanten in den Unternehmen und darüber hinaus. Das sind wir, und das wollen wir bleiben, meine Damen und Herren.
Dort sollen sich alle entfalten können und ihre Kreativität zeigen können. Nur daraus wächst wirtschaftliche Stärke und Wohlstand, und nur so gewinnen wir auch die Mittel, um mit den Schwächeren in unserem Land solidarisch zu sein. Denn wir wollen denen unter uns helfen, die es nicht aus eigener Kraft schaffen, wir wollen einander im Falle der Arbeitslosigkeit auffangen und zurück in Arbeit bringen, wir wollen einander in Krankheit und im Alter stützen, und wir wollen denen unter uns Bildung und Aufstieg ermöglichen, denen beides zu erreichen nicht in die Wiege gelegt war.
Und schließlich viertens: Wir wollen ein weltoffenes, europäisches Land sein. Denn all dies - demokratisch, rechtsstaatlich, wirtschaftlich innovativ und solidarisch - macht Europa im Ganzen aus. Das ist Europa. Das ist der europäische Lebensweg, wie er über Jahrhunderte gewachsen ist. Wir sind in Europa nur miteinander stark, oder wir sind als einzelne Staaten schwach. Wir in Deutschland wissen: Wenn es Europa gut geht, geht es auch Deutschland gut, und wenn es Europa nicht gut geht, dann geht es Deutschland überdurchschnittlich schlecht.
Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung. Ich hatte das große Glück, die Zeit der Wiedervereinigung - von 1989 über das Schicksalsjahr 1990 bis zum Jahr 1994 - dem Europäischen Parlament anzugehören. Ich bin 1989 einer der beiden jüngsten deutschen Europaabgeordneten in Straßburg und in Brüssel gewesen. Ich konnte ein Gefühl dafür entwickeln, wie unsere europäischen Nachbarn auf uns, auf Deutschland schauen, welche Befürchtungen sie auch mit einem wiedervereinigten Deutschland verbinden und was sie sich zugleich von uns erhoffen.
Diese Erfahrung und dieses politische Empfinden haben mich damals geprägt und prägen mich bis heute. Ich kann daher für mich, aber auch für die von mir geführte Bundesregierung sagen: Wir wollen für Europa die gute Kraft sein, die wir seit Konrad Adenauer immer wieder gewesen sind. Deutschland denkt und handelt europäisch.
Die heutige Anwesenheit des französischen Staatspräsidenten ehrt uns und ist Ausdruck der tiefen Integration Deutschlands in Europa und des besonderen Stellenwerts der deutsch-französischen Freundschaft. Herzlichen Dank dafür!
Meine Damen und Herren, das ist das Land, das wir sein wollen - und das wir wieder werden können, wenn wir uns dem Ziel einer neuen Einheit gemeinsam zuwenden. Wir können heute aufbauen auf Jahrzehnten, in denen vieles gelungen ist. Wir können aufbauen auf Jahrzehnten, in denen wir die Verantwortung angenommen haben, die aus dem Leid folgt, das wir in der nationalsozialistischen Zeit über Europa und die Welt und auch über unser eigenes Land gebracht haben. Wir können darauf aufbauen - aber das müssen wir jetzt auch tun: Aufbauen, Neues wagen, Überkommenes hinter uns lassen. Dann werden wir erleben, dass dieser gemeinsame Aufbruch eine neue Einheit stiftet und wir auch Spaltungen überwinden können.
Der französische Philosoph und Historiker Ernest Renan hat vor 150 Jahren die moderne Nation ein "tägliches Plebiszit" genannt. Sie ist weder Zwang noch Blutsgemeinschaft; sie wächst aus der zustimmenden Willensbekundung aller, so sagt er, die beabsichtigen, "das gemeinsame Leben fortzusetzen".
Ja, meine Damen und Herren, die Nation wächst auch aus der gemeinsamen Bewältigung von Herausforderungen - jedenfalls wächst sie dann nach vorn, in die Zukunft, durch gemeinsames Tun. Gewiss wächst sie so auch leichter als über ein gemeinsames Bild von der Vergangenheit, das ohnehin schwer zu zeichnen ist.
Ziehen wir deshalb aus diesem Grundkonsens neue Stärke! Denn diese Stärke brauchen wir angesichts der Aufgaben, vor denen wir stehen. Die Aufgaben - ich will sie noch einmal kurz bündeln - sind folgende:
Wir müssen wieder lernen, uns zu verteidigen. Die Machtzentren der Welt verschieben sich in einem Maße, wie wir es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gesehen haben. Eine Achse von autokratischen Staaten, die die liberale internationale Ordnung infrage stellt, fordert die westlichen Demokratien geradezu heraus. Deshalb müssen wir wieder fähig werden, unsere Freiheit zu verteidigen.
Diese Verantwortung für unsere Freiheit liegt aber nicht allein bei den politischen Institutionen - sie liegt bei uns allen. Nehmen wir also diese Verantwortung an. Ein Ausdruck dieser Verantwortung wäre, wieder Wehrdienst zu leisten. Wir machen diesen Dienst attraktiver, um genug Soldatinnen und Soldaten dafür zu gewinnen. Und darf ich auch das an dieser Stelle sagen: Wir schulden unseren Soldatinnen und Soldaten schon heute großen Dank dafür, dass sie bereit sind, diesen Dienst in unserem Land zu leisten. Uns eint der Satz: Wir wollen unsere Freiheit verteidigen können, damit wir sie nicht verteidigen müssen.
Wir müssen zweifellos auch wieder auf einen Pfad wirtschaftlicher Stärke und nachhaltigen Wohlstands zurückfinden. Auch unsere wirtschaftliche Stärke, meine Damen und Herren, beginnt heute mit der Europapolitik und der Außenpolitik. Wir müssen uns einem neuen Protektionismus in der Welt mit neuen Handelsregeln und der Erschließung eigener neuer Märkte entgegenstellen.
Die Europäische Union muss dabei ihre Prioritäten neu setzen. Europa muss sich wieder auf seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit konzentrieren. Und Europa muss den Klimaschutz verbinden mit dem Anspruch, dafür die modernsten Technologien auf der Welt zu entwickeln. Denn nur so lassen sich Menschen begeistern, und nur so zweifeln sie nicht daran, ob denn beides miteinander vereinbar ist, Wohlstand und Klimaschutz.
Schließlich brauchen wir selbst in unserem Land einen neuen Ehrgeiz, technologisch führend zu sein in der Welt. Und wir müssen uns alle gemeinsam - daran wird kein Weg vorbeiführen mehr anstrengen, um den international schärfer werdenden Wettbewerb auch zu bestehen.
Es gibt für mich keinen Zweifel: Wir haben alle Chancen. Es entstehen jetzt neue Wirtschaftsräume, in denen wir Europäer gern gesehene Partner sind. Europa selbst hat das Potential, mit einem weiter wachsenden und vertieften Binnenmarkt und mit 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern einer der großen und dynamischen Wirtschaftsräume der Welt zu sein.
Es wird aber - auch davon bin ich fest überzeugt - nicht alles auf die alte Weise gehen. Wir müssen etwa aus dem Misstrauensmodus heraus und hinein in einen neuen Vertrauensmodus zwischen Staat und Bürger. In Europa und in Deutschland muss es deshalb weniger Regulierung und weniger Kontrolle geben - und mehr Vertrauen zwischen Staat und Bürger, zwischen Staat und Unternehmen in unserem Land.
Wir müssen wieder mehr Freiheit einräumen; denn nur aus wirtschaftlicher Stärke heraus können wir schließlich noch einmal den Sozialstaat so aufstellen, dass wir die sozialen Versprechen, die wir uns ja gegeben haben, auch künftig erfüllen können. Es geht in dieser Frage um einen neuen Konsens der Gerechtigkeit. Sozialpolitik muss wieder mit einem klaren Blick auf die Wirklichkeit beginnen, zumal auf die demographische Lage unseres Landes. Es geht darum, dass wir die Lasten - auch zwischen den Generationen - so verteilen, dass unser Sozialstaat auch zukünftig funktioniert. Das Ziel der unabdingbaren Reformen ist eben der Erhalt des Sozialstaats, des Kerns des Sozialstaats für diejenigen, die ihn wirklich brauchen.
Wenn wir gemeinsam dieses Deutschland sein wollen und wenn wir diese Aufgaben angehen, dann werden wir unser Land in Europa in guter Balance halten und dann werden wir zu einer neuen Einheit finden. Denn wir verteidigen unsere Lebensweise in dieser rauer gewordenen Welt nicht als Westdeutsche oder als Ostdeutsche - wir verteidigen sie als Deutsche.
Ich habe es in der vergangenen Woche im Deutschen Bundestag gesagt und will es hier gerne wiederholen: Wir dürfen uns dabei durchaus mehr zutrauen - als Land, als Gesellschaft und in der Politik. Denn es ist ja ein bisschen Mode geworden, der Politik weitgehende Machtlosigkeit zu unterstellen in einer zunehmend komplexen Welt. Ich mache mir diesen Befund ausdrücklich nicht zu eigen.
Trauen wir uns also solche Veränderungen zu. Lassen wir uns nicht von Angst lähmen. Wagen wir einen neuen Aufbruch. Erinnern wir uns auch an die Zuversicht, mit der unsere ostdeutschen Landsleute vor 35 Jahren ihren Aufbruch wagten. Erinnern wir uns, wie viel Kraft ein positiver Geist freisetzen kann und wie viel Energie verschwendet und vergeudet wird durch Pessimismus und Larmoyanz. Dafür haben wir keine Zeit, meine Damen und Herren.
Denn es ist unser Land. Wir haben es im Westen mit der Hilfe - nur mit der Hilfe - der Amerikaner, der Briten und der Franzosen aus der dunkelsten Zeit unserer Geschichte heraus in die Freiheit hineingeschafft. Die Menschen in Ostdeutschland haben sich selbst und mit dem eigenen Mut zur Freiheit aus den Fesseln der zweiten deutschen Diktatur gelöst. Lassen wir nicht zu, dass zerstört wird, was wir so errungen haben. Lassen Sie uns die Chance ergreifen, eine neue Einheit zu gestalten. Stehen wir in Einigkeit für das Recht und für die Freiheit!
Herzlichen Dank.