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10/26/2025 | News release | Distributed by Public on 10/27/2025 01:01

Ein ETH-Spin-off will die Genschere in die Klinik bringen

Ein ETH-Spin-off will die Genschere in die Klinik bringen

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Mithilfe der Crispr/Cas-Technologie können Forschende das Erbgut präzise editieren, um Erbkrankheiten zu therapieren. Dafür müssen sie jedoch ungewollte Schnitte im Genom frühzeitig erkennen. Pioneer Fellow Lilly van de Venn entwickelt solche Prüfverfahren.

27.10.2025 von Samuel Schläfli, freier Autor
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Pioneer Fellow und Firmengründerin Lilly van de Venn lädt Proben in einen Laborroboter, der diese automatisch analysiert. (Bild: Michel Büchel / ETH Zürich)

Sie sei eher introvertiert, erzählt Lilly van de Venn. Während des Studiums habe sie zu den Schüchternen gehört. Dies, nachdem ihre Kolleg:innen am Gymnasium Rychenberg in Winterthur mutmassten, dass sie für ein Studium an der ETH Zürich zu wenig intelligent sei. «Der Entscheid für ein Biochemiestudium an genau dieser Hochschule war auch eine Trotzreaktion», sagt van de Venn. «Ich wollte es den anderen zeigen.»

So begann sie 2012 an der ETH Zürich das Grundstudium in Biochemie mit 160 Studierenden, nach einer Woche waren es noch 60 und bis zum Bachelorabschluss war der Jahrgang auf 20 geschrumpft. «Das Studium war schwierig und es blieb wenig Zeit für anderes», erinnert sie sich. «Aber wenn mich etwas wirklich interessiert, dann habe ich kein Problem, mich in ein Thema reinzuknien.»

Im Rampenlicht für die eigene Geschäftsidee

13 Jahre später ist Lilly van de Venn CEO eines Spin-offs, der noch keinen Namen trägt, aber bereits grosse Hoffnungen weckt. Von ihrer früheren Schüchternheit ist beim Gespräch am Institut für molekulare Gesundheitswissenschaften auf dem Campus Hönggerberg nichts mehr zu merken. Die heute 32-Jährige erzählt begeistert und überzeugend von ihrer Forschung - egal, ob in Englisch oder Deutsch. Mittlerweile fällt ihr auch das Präsentieren und Pitchen leicht, wenn sie an Start-up-Wettbewerben, an Forschungskonferenzen oder vor potenziellen Investor:innen über ihre Geschäftsidee spricht: eine präzise und effiziente Methode, mit welcher ungewollte Schnitte am Genom, sogenannte Off-target-Effekte, zuverlässig aufgespürt werden können. Das ist für Therapien, die auf Bearbeitung des Erbguts beruhen, zentral.

Mit der molekularbiologischen CRISPR/Cas-Technologie können Wissenschaftler:innen DNA gezielt schneiden, um Gene zu entfernen, auszuschalten oder einzufügen. Damit sind grosse Hoffnungen verbunden, zum Beispiel die Heilung der Sichelzellanämie, eine erbliche Erkrankung der roten Blutzellen. Heute sind Patient:innen oft ein Leben lang auf Medikamente angewiesen, ohne Aussicht auf Heilung. In der Klinik könnte CRISPR/Cas wie folgt eingesetzt werden: Patient:innen werden Blutstammzellen entnommen. Im Labor entfernen und ersetzen Forschende die vererbte und krankmachende Sequenz im Genom der Zelle. Anschliessend wird die veränderte Zelle ins Knochenmark eingesetzt, wo sie sich selbständig teilt und vermehrt - mitsamt dem reparierten Gen. «Eine der grössten Herausforderungen liegt darin, dass man mittels CRISPR/Cas wirklich nur an den beabsichtigten Stellen im Genom schneidet», erklärt van de Venn. «Unbeabsichtigte Schnitte können zum Beispiel Krebs verursachen.»

Die Schnittstellen im Auge behalten

Als die Biochemikerin während des Masterstudiums zum ersten Mal von Off-target-Effekten in Zellen hörte, war sie beunruhigt. «Doch je länger ich darüber nachdachte, desto interessanter fand ich die Frage, wie man diese unbeabsichtigten Schnittstellen findet.» In einer typischen menschlichen Körperzelle befinden sich etwa sechs Milliarden DNA-Bausteine, also Basenpaare. Entsprechend schwierig ist es, Veränderungen mit CRISPR/Cas im Auge zu behalten. Forschende suchen deshalb seit Jahren nach Methoden, wie sie unbeabsichtigte Schnittstellen finden und sie beschreiben können. Einer der leitenden Experten auf diesem Gebiet ist Jacob Corn, Professor für Genombiologie am Institut für molekulare Gesundheitswissenschaften der ETH Zürich. Er ist Mitautor eines 2019 im Fachmagazin Science erschienenen Artikels, der ein Protokoll namens «DISCOVER Seq» präsentierte; eine Art Bedienungsanleitung zum Detektieren von Off-target-Effekten.

«DISCOVER Seq» nutzt das Prinzip, dass sämtliche Schnitte, beabsichtigte wie unbeabsichtigte, in einer Zelle repariert werden müssen, damit diese gesund bleibt. An diesem Reparaturprozess sind bestimmte Proteine beteiligt. Wenn es gelingt, diese Proteine zu finden, so die Idee der Autor:innen, dann sollte man auch alle Stellen finden, an denen eine Reparatur stattfindet. Daraus lässt sich folgern, wo die DNA zuvor geschnitten wurde. Dazu fixierten die Forschenden Millionen von Zellen, indem sie die DNA und die spezifischen Proteine (MRE11), die an der DNA-Reparatur beteiligt sind, mit Formaldehyd «zusammenklebten». Mithilfe eines passenden Antikörpers, der an MRE11 bindet, und bestimmter Reagenzien konnten sie anschliessend die Proteine mit Schnittstellen aus der zuvor zerkleinerten DNA aus der Lösung ziehen und detektieren.

Schon während ihres Masterstudiums meldete sich Van de Venn bei Corn, der damals noch an der University of California in Berkeley arbeitete. Sie schlug ihm vor, im Rahmen ihrer Doktorarbeit «DISCOVER Seq» weiterzuentwickeln und das Protokoll für medizinische Anwendungen zu optimieren. «Ursprünglich benötigte man zum Detektieren der Off-target-Effekte sehr viele Zellen. Das ist in einem Spitalumfeld jedoch nicht praktikabel.» Zudem war die Aufarbeitung einer Probe langwierig und aufwendig.

Van de Venn wollte deshalb mit weniger Ausgangsmaterial bessere Analyseergebnisse erzielen. Was sie damals noch nicht wusste: Corn war gerade mit dem Umzug seiner Forschungsgruppe an die ETH Zürich beschäftigt. Wenige Monate später begann die Masterabsolventin ihre Doktorarbeit im Corn Lab; gleich neben dem Labor, in dem sie bereits für ihre Masterarbeit mit CRISP/Cas gearbeitet hatte.

Nach monatelangen Versuchen gelang der Forscherin der Durchbruch. Sie nutzte erstmals einen Wirkstoff aus der Krebsforschung, um das MRE 11-Protein zu fixieren. Das ist entscheidend, denn je weiter das Protein sich von der Schnittstelle wegbewegt, desto schwächer wird das Messsignal und desto schwieriger das Erkennen von Off-target-Effekten. «Jacob war zuerst skeptisch, fand aber, ich solle es einfach ausprobieren». Und tatsächlich passte das Wirkstoffmolekül perfekt. Es blockiert die Stelle, über welche sich das Protein normalerweise auf der DNA bewegt. Heute braucht van de Venn nur noch wenige Zellen aus einer Biopsie zum Detektieren von Off-target-Effekten. «Das passt in den regulären Arbeitsablauf an der Klinik, wenn bei Patienten Abklärungen getroffen werden.»

Mit «AutoDISCO» Risiken einschätzen

Anfang 2025 hat die Biochemikerin gemeinsam mit ihrem Doktoratskollegen Charles D. Yeh einen Spin-off gegründet. Das erste Produkt nennt sich «AutoDISCO», ein standardisiertes Vorgehen für die routinemässige Analyse von Off-target-Effekten bei der Entwicklung von Gentherapien. «Wir können unseren Partnern sagen, wo ungewollte Schnitte im Genom sichtbar sind und eine erste Risikoeinschätzung durchführen.»

Van de Venn ist überzeugt, dass ihre Unternehmensidee zur richtigen Zeit kommt: Mehrere klinische Studien bei Patient:innen mit Blutkrankheiten mussten abgebrochen werden aufgrund von Nebenwirkungen, die durch Off-target-Effekte hervorgerufen wurden. Die European Medicines Agency (EMA) und die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) haben daraufhin ihre Vorschriften für die Zulassung von Gentherapien verschärft. Sie fordern, dass Off-target-Effekte routinemässig kontrolliert werden. 2023 wurde erstmals eine Therapie basierend auf CRISPR/Cas-editierten Stammzellen (Casgevy) in den USA und Grossbritannien zugelassen, in der EU ein Jahr später.

Noch kosten solche Therapien zwischen zwei und drei Millionen US-Dollar und sind nur wenigen Patient:innen in reichen Ländern zugänglich. Sie benötigen eine hochspezialisierte Labor- und Spitalinfrastruktur und bergen weiterhin biologische Risiken. Van de Venn hofft, dass die Kosten in Zukunft stark sinken und die Therapien breiter verfügbar werden, ähnlich wie heute Chemotherapien gegen Krebs. Marktforschungsunternehmen prognostizieren der Geneditierung bis 2033 einen Markt von 40 Milliarden US-Dollar. Forschende gehen davon aus, dass Gentherapien künftig auch bei muskeldegenerativen Krankheiten oder genetischen Nieren- oder Leberschäden eingesetzt werden können.

Lilly van de Venn und ihre Geschäftspartner Dominic Mailänder (l.) und Charles D. Yeh (r.) (Bild: Michel Büchel / ETH Zürich)

Derzeit wird van de Venns Spin-off durch einen Pioneer-Fellowship der ETH Foundation und einen Bridge Discovery-Grant des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt. Der erste Angestellte Dominic Mailaender kümmert sich um die Automatisierung des Protokolls. Bereits heute übernimmt ein Roboter das Pipettieren im Rahmen des AutoDISCO-Verfahrens. Für die kommenden zwei Jahre kann das dreiköpfige Team in den Laboren von Jacob Corns Forschungsgruppe weiterarbeiten. Der Professor selbst steht dem Spin-off als Berater zur Verfügung.

Das Team arbeitet unter anderem mit dem Zürcher Start-up Nerai Bio zusammen, das neue CRISPR/Cas-Proteine entwickelt. Zudem bestehen erste Kooperationen mit zwei Unternehmen, die ungenannt bleiben wollen. Van de Venn sagt lediglich: «Die Pharmaindustrie ist sehr an unserer Arbeit interessiert.» Sie erachtet es als realistisch, dass ihr Spin-off in einigen Jahren von einem Pharmaunternehmen übernommen wird. Und was würde sie nach einer erfolgreichen Integration des Start-ups in einen Konzern tun? «Wahrscheinlich würde ich dann einfach nochmals neu gründen», sagt die frischgebackene CEO selbstbewusst.

Pioneer Fellowship Programm

Das Pioneer Fellowship ist ein umfassendes Unterstützungsprogramm, das innovativen Denker:innen ideale Bedingungen für den Beginn ihrer unternehmerischen Tätigkeit bietet. Das Programm richtet sich primär an Doktorierende, steht aber auch Masterstudierenden und Postdocs offen. Pioneer Fellows erhalten ein Stipendium von 180'000 Franken über 12 bis 18 Monate, zusätzlich zu umfassendem Mentoring und Ausbildung. Die Pioneer Fellowships werden gemeinsam von der ETH Foundation und der ETH Zürich finanziert.

Weitere Informationen

Pioneer Fellowship Programm (Englisch)

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